Plain of Six Glaciers

OAm Morgen des 30. August 2025, genau um zehn Uhr, brach ich zu einer der lohnendsten Wanderungen in den Kanadischen Rocky Mountains auf: dem Plain of Six Glaciers Trail am Lake Louise. Der Weg erstreckt sich über 13,8 Kilometer mit einem Höhenunterschied von 591 Metern, und er fühlt sich an wie eine Reise durch verschiedene Schichten von Natur, Geschichte und alpiner Erhabenheit.

Die Wanderung begann am türkisfarbenen Wasser des Lake Louise, einem Ort, der mit seinen Farben fast unwirklich erscheint.

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Der See wurde einst von Gletschern geformt, und seine smaragd-blaue Färbung stammt von feinstem Gesteinsmehl, das noch heute von Schmelzwasser in ihn hineingetragen wird. Am Ufer steht das berühmte Fairmont Chateau Lake Louise, ein prächtiges Hotel, das seit über einem Jahrhundert Besucher willkommen heißt.

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Seine elegante Präsenz bildet einen faszinierenden Kontrast zur wilden Landschaft dahinter, als sei hier ein Tor zwischen Zivilisation und Hochgebirge errichtet worden.

Ich folgte zunächst dem Ufer des Lake Louise, dessen Wasser im Morgenlicht still dalag und die umliegenden Gipfel wie ein Spiegel reflektierte.

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Der erste Abschnitt des Weges war sanft, fast trügerisch leicht, da er weitgehend eben verlief und viel Zeit ließ, die wechselnden Ansichten des Sees und der ihn umgebenden Berge zu genießen. Allmählich erreichte ich das Ende des Sees, wo der Wald dichter wurde und der Pfad zu einem stetigen Aufstieg ansetzte. Hier erinnerte mich das Rauschen kleiner Schmelzwasserbäche daran, dass die Gletscher ganz in der Nähe waren, auch wenn sie sich noch nicht zeigten.

Der Weg wechselte zwischen Anstiegen und flacheren Passagen, die Gelegenheit zum Verschnaufen gaben. Hin und wieder waren Bänke an Aussichtspunkten aufgestellt, und ich schätzte, wie sehr sie zum Innehalten einluden. Von dort aus konnte man beobachten, wie sich die Landschaft veränderte: Hinter mir wurde der Lake Louise immer kleiner und schimmernder, vor mir traten die gezackten Grate der Berge immer deutlicher hervor.

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Nach einiger Mühe erreichte ich das Plain of Six Glaciers Teahouse. Dieses rustikale Refugium, das 1927 von Schweizer Bergführern errichtet wurde, markierte wie selbstverständlich die Mitte des Weges. Schon von seiner Terrasse aus eröffnete sich ein überwältigendes Panorama.

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Direkt vor mir erhob sich der mächtige Mount Victoria, dessen steile Flanken vom gewaltigen Victoria Glacier bedeckt sind. Der Gletscher stürzte wie ein gefrorener Strom zu Tal, seine Oberfläche von Spalten durchzogen, und verlieh der Szenerie eine strenge Schönheit. Links davon ragte Mount Lefroy auf, dessen scharfes Profil sich gegen den Himmel abzeichnete. An seinen Nordhängen hafteten Hanggletscher, deren Formen dramatisch wirkten: zerbrochene Eiszungen, die sich an senkrechte Wände klammerten, wo manchmal Lawinen herabdonnern.

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Hinter dem Teahouse verlief der Weg zunächst eine Weile eben, sodass sich der Körper erholen konnte, während die Augen weiterhin von der Szenerie gefangen waren. Doch bald begann der Pfad erneut anzusteigen. Je höher ich kam, desto näher und imposanter erschienen die Gletscher. Da war Mount Aberdeen mit seinem Gletscher, der in weiten, eisigen Falten hinabfloss;

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der Lefroy Glacier, der wie ein gefrorener Vorhang glänzte; und am Grat weiter entfernt zeigte sich Popes Peak.

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Zusammen mit Victoria und Lefroy bildeten sie das große Amphitheater der Gipfel, das dieses Tal prägt.

Die letzten 300 Meter des Aufstiegs waren die anstrengendsten. Der Hang wurde steil, und was von unten wie ein leichter Anstieg ausgesehen hatte, entpuppte sich als Prüfung der Ausdauer. Jeder Schritt erforderte Konzentration, da der Weg über loses Gestein und Geröll führte. Die Luft wurde dünner, und die Erhabenheit der Landschaft wirkte überwältigend. Oft hielt ich an, nicht nur um auszuruhen, sondern auch, um mich umzudrehen und den Blick schweifen zu lassen: Tief unten glänzte der Lake Louise nun wie ein funkelndes Juwel, eingerahmt von dichtem Wald und gewaltigen Bergketten.

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Oben angekommen, war die Belohnung atemberaubend. Vor mir breitete sich die Ebene der sechs Gletscher aus, eine wilde und ursprüngliche Landschaft aus Eis und Stein, beherrscht von den sechs großen Gletschern, die dem Weg seinen Namen gaben. Das Bild war streng und zugleich von tiefer Schönheit: die Eisfelder glitzerten in der Sonne, ihre Oberflächen geformt zu Wellen, Graten und tiefblauen Spalten. Mount Victoria erschien mit seinem breiten, abwärtsfließenden Gletscher wie ein monumentaler Thron aus Eis. Der Lefroy Glacier klammerte sich waghalsig an seinen Gipfel, während der Aberdeen Glacier anmutig von den Flanken des Mount Aberdeen herabfloss. Kleinere Hanggletscher vervollständigten das Bild, jeder einzigartig geformt durch Jahrhunderte von Schnee und Eis.

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Dort zu stehen fühlte sich an, als hätte ich eine Kathedrale der Natur betreten, deren Wände die Berge waren, deren Dach der Himmel war und deren stumme Gebete vom Wind und vom Eis geflüstert wurden. Es war ein Ort der Gegensätze: gewaltige Kraft und zarte Schönheit, ewige Stille und unaufhörliche Veränderung.

Der Abstieg war sanfter und ließ mir Zeit zum Nachdenken. Der Weg hatte mich von der ruhigen Eleganz des Lake Louise, vorbei am historischen Teahouse, bis ins Herz der eisigen Erhabenheit der Rockies geführt.

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Das Fairmont Chateau, das mir zu Beginn so groß erschienen war, wirkte nun von oben wie ein Spielzeugschloss – ein Sinnbild dafür, wie klein menschliche Werke im Vergleich zu den Dimensionen der Berge und Gletscher sind.

Als ich schließlich ans Seeufer zurückkehrte, war der Tag in den Nachmittag übergegangen. Die Wanderung über 13,8 Kilometer mit fast 600 Höhenmetern hatte ihre Spuren in meinen Beinen hinterlassen, doch viel wichtiger war der bleibende Eindruck in meiner Erinnerung. Der Plain of Six Glaciers Trail hatte sich entfaltet wie eine Geschichte, in der jedes Kapitel etwas Neues bot – Ruhe, Herausforderung, Geschichte und schließlich die rohe Erhabenheit der Hochgebirgswelt.

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