Heute, am 16. September 2025, brach ich vom Sun Point zu den Virginia Falls im Glacier National Park auf. Nach einem ganzen Regentag gestern lag noch ein Hauch von Feuchtigkeit in der Luft, und der Morgen begann unter einer dichten Wolkendecke. Doch im Laufe der Stunden veränderte sich das Licht, die Wolken rissen auf, und Sonnenstrahlen ergossen sich ins Tal, erhellten den Weg und das Wasser des St. Mary Lake. Es fühlte sich an, als würden die Berge nach einer langen Nacht wieder aus ihrem Versteck treten.
Der Pfad selbst verlief sanft, fast eben, durch ein Stück Wald, das in früheren Jahren verbrannt war. Die verkohlten Stämme ragten in dunklen Silhouetten auf, Erinnerungen an die Kraft des Feuers, und ich spürte einen Anflug von Traurigkeit über den Verlust. Gleichzeitig jedoch öffneten diese kahlen Flächen Ausblicke, die früher verborgen gewesen wären. Es war, als hätte das Land, seiner Bäume beraubt, beschlossen, die ganze Größe der umliegenden Gipfel preiszugeben.
Zu meiner Linken lag der St. Mary Lake, lang und glänzend, seine Wasser mal türkisfarben, mal stahlgrau, je nachdem, wie das wechselnde Licht den See traf.

Entlang seines Ufers erblickte ich zuerst den Red Eagle Mountain. Er erhob sich mit scharfen, kantigen Konturen, seine Hänge von tiefroten und erdbraunen Schichten durchzogen, die aufleuchteten, sobald die Sonne sie berührte. Die Farben waren eindrucksvoll, als trüge der Fels noch immer die Glut des Feuers in sich.

Gleich daneben, fast Schulter an Schulter, stand der Mahtotopa Mountain, mit breiterem, kronenartigem Gipfel, stiller im Ausdruck, doch ebenso stolz.

Neben ihm erhob sich der Little Chief Mountain, dessen dunkle Wände steil zum See hinabstürzten. Der Kontrast zwischen den helleren, rostrot gefärbten Tönen des Red Eagle und den dunkleren, fast schattenhaften Flanken des Little Chief verlieh dem ganzen Massiv eine Art von Ausgewogenheit – wie eine Familie von Riesen, die Seite an Seite steht.

Ein Stück weiter entlang des Pfades fiel mein Blick auf den eleganten Dusty Star Mountain. Seine Grate erhoben sich scharf und klar, schnitten das Himmelsblau mit klingenähnlichen Linien. Seine Farben wirkten weicher, zurückhaltender, als sei der Gipfel aus hellem Sandstein geformt und von den Jahrhunderten mit Staub überzogen. Der Berg hatte etwas Ätherisches an sich, fest und doch wie aus einem Traum.

Am fernen Ende des St. Mary Lake konnte ich den Fusillade Mountain erkennen, dessen gezackte Grate dramatisch in die Höhe ragten. Er wirkte, als wäre er durch Schlachten geformt, der Fels zu kühnen Zacken zerschlagen. Er stand wie ein Wächter am Ende des Sees, ein Sinnbild der rohen Kraft dieser Landschaft.

Als der Weg anstieg und mein Blick nach rechts schweifte, traten neue Gipfel in den Vordergrund. Dort erhob sich der Goat Mountain mit gewaltiger Wucht, seine grauen Flanken rau und massiv wie eine Festungsmauer. Er strahlte eine Ruhe und Beständigkeit aus, als hätte er seit Ewigkeit über dieses Tal gewacht.

Neben ihm zeigte sich der Singleshot Mountain, ein fast einsamer Berg, mit einer einzigen dominierenden Felswand aus hellem Gestein. Seine Hänge waren von Sedimentlinien durchzogen, ein natürliches Geschichtsbuch der Erde, und im wechselnden Licht schimmerte seine Oberfläche silbrig.

Unterwegs begleiteten mich immer wieder die Klänge des Wassers. Drei Wasserfälle säumten meinen Weg, jeder mit eigener Schönheit. Zuerst kam der Baring Falls, ein schmaler, zarter Schleier, der in ein schattiges Becken stürzte. Später folgte der St. Mary Falls, der in zwei Stufen donnernd in ein wildes, türkisfarbenes Becken fiel und den ganzen Canyon mit seiner Stimme erfüllte.

Schließlich erreichte ich die Virginia Falls, den großartigsten von allen. Das Wasser ergoss sich in einer langen Kaskade, fast 500 Meter in mehreren Stufen. Nachdem ich die 500 Meter den Kaskaden gefolgt bin, stand ich vor den eigentlichen Fällen, die sich von einer hohen Wand mit mächtigem Knall niederstürzten. Vor dem Wasserfall zu stehen, mit Sprühnebel im Gesicht und dem Echo des Wassers ringsum, erfüllte mich zugleich mit Demut und Begeisterung.

Wenn ich den Tag rückblickend betrachte, spüre ich, wie anders sich diese Wanderung im Vergleich zu meinem Besuch vor sechs Jahren anfühlte. Damals gab es nur wenige Ausblicke, der Wald stand noch dicht, die Berge blieben meist verborgen. Heute aber, durch die Feuerlichtungen, offenbarte sich jeder Gipfel, jeder mit seiner eigenen Form und Farbe, jeder als Stimme in der Erzählung des Tals. Trauer und Schönheit, Zerstörung und Erneuerung – alles schien mich auf diesem Weg zu begleiten.